PROF. RONELLENFITSCH
Der nutzlose Jurist
Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Abschlußfeier
des Examensjahrgangs 1996. Grund zum Feiern haben zunächst alle, die
das Examen bestanden haben. Dies ist Ihr Tag. Grund zum Feiern haben ferner
alle, denen diejenigen, die das Examen bestanden haben, mitzuverdanken
haben, daß sie es bestanden haben, also Eltern, Verwandte, Freunde,
Bekannte, Repetitoren und hoffentlich auch der hiesige Lehrkörper.
Sie freuen sich mit den erfolgreichen Examenskandidatinnen und Examenskandidaten.
Ich wiederum freue mich, daß so zahlreich erschienen sind, die Grund
zum Feiern und zur Freude haben. In dieser freudigen Feierstunde wollen
wir aber nicht diejenigen vergessen, die das Examen nicht oder nicht so,
wie erhofft, bestanden haben. Sie hatten Pech und können sich dennoch
auch freuen, nämlich über die Chance eines weiteren Versuchs
oder schlicht darüber, daß sie überhaupt Jura studiert
haben. Entgegen verbreiteter Meinung kann jemand, der sich zur Aufnahme
des Jurastudiums entschlossen hat, im Leben gar nicht völlig gescheitert
sein. Rudimentäre Rechtskenntnisse machen oft lebenstauglicher als
der qualifizierte Abschluß in einem anderen sozial- oder gar naturwissenschaftlichen
Fach ohne realistische künftige Beschäftigungschance. Selbst
diejenigen, die das Jurastudium abgebrochen haben, weil sie ihre hierfür
fehlende Eignung erkannten, können damit noch hausieren gehen. Die
Sympathie der Nicht-Juristen ist ihnen sicher. Denn Juristinnen und Juristen
sind beim Rest der Menschheit nicht beliebt, werden angefeindet, als lästig
empfunden und schließlich gar als unnütz abgetan. Damit bin
ich beim Thema, das ich mir für die heutige Veranstaltung ausgesucht
habe. Was wäre schließlich eine Feier ohne einen, wenn auch
knappen Vortrag. Nun liegt es mir fern, Ihnen die gerade erst betonte Freude
zu vermiesen, indem ich Ihnen Mahnungen für Ihren weiteren Lebensweg
aufnötige. Einige Bemerkungen zum Juristenberuf, dem Sie jetzt einen
entscheidenden Schritt näher gekommen sind, möchte ich Ihnen
trotzdem mitgeben. Ich stelle die Frage, die sich juristische Laien auch
stellen: Wozu braucht man überhaupt Juristinnen und Juristen ?
1. Keine Gesellschaft leistet sich den Luxus ausgebildeter Juristen,
wenn diese nicht gebraucht würden. Denn Juristen sind unbeliebt.
Das war schon immer so. Lassen wir im historischen Zusammenhang einige
unserer prominentesten Kritiker zu Wort kommen. Gegner hatte der Berufsstand
der Juristen in Deutschland, seit es hier überhaupt gelehrte Juristen
gab. So bestanden zum einen Vorbehalte gegen eine Rechtsprechung durch
Rechtsgelehrte. Die mittelalterliche Gerichtsbarkeit beruhte auf dem Rechtsempfinden
und nicht in der Anwendung geschriebenen Rechts. Sie geriet aber immer
professioneller. Die Karriere der gelehrten Juristen hängt zusammen
mit der Rezeption des römischen Rechts, die mit der Einsetzung des
Reichskammergerichts 1495 praktisch entschieden war. Die Rezeption des
römischen Rechts hatte viele Gründe. Den wichtigsten stellte
Paul Laband heraus, nämlich den Zusammenhang mit der Entstehung des
Territorialstaats.
Rede über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Staatsrecht, in: Rektoratswechsel an der Universität Straßburg am 1. Mai 1880, S. 24 ff.
Ehe ich diesen öffentlich-rechtlichen Aspekt weiterverfolge, möchte
daran erinnern, daß der Aufstieg der gelehrten Juristen im privaten
Rechtsverkehr von Anfang an mit zeitgenössischen Klagen der Landstände
und Bauern über die Doktoren und ihre unverständlichen Subtilitäten
verbunden war. Die Distanz der Laien gegenüber "Justizjuristen"
hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Die Klagen gegen juristische Subtilitäten
münden in zyklische Forderungen nach Rechtsvereinfachungen, für
die man aber auch Juristen benötigt. Die komplizierten Lebensverhältnisse
erzwingen ohnehin bald wieder differenzierende Regelungen, die ebenfalls
nur Juristen entwerfen und kommentieren können. Insofern ist ihre
Stellung nicht gefährdet. Der Juristenstand ist ein perpetuum mobile.
Überflüssig und nutzlos werden Juristen nicht werden, mögen
sie auch noch so unbeliebt sein. Zurück zum öffentlich-rechtlichen
Aspekt: Bevor die gelehrten weltlichen Juristen in das Gerichtswesen eintraten,
waren sie längst Regierungs- und Verwaltungsbeamte. Wo regiert wurde,
bestand ein Bedürfnis nach schriftlicher Aufzeichnung. Diese Aufgabe
erfüllten die Skriptoren oder "notarii". Das waren zunächst
die Geistlichen ("clercs"). Die Schreibtätigkeit führte
zu Expertenwissen und erforderte Kenntnisse namentlich des rezipierten
fremden Rechts. Spätestens gegen Ende des Mittelalters hatten die
gelehrten Juristen die Kleriker aus den Kanzleien verdrängt. "Silete,
theologi, in munere alieno !" rief ihnen Albericus Gentilis zu. Die
Theologen verschmerzten das nur schwer. Luther verwarf zwar die von katholischer
Seite propagierte Erniedrigung des Staates unter die Kirche, war aber selbst
"ein Geweihter der Herrn". In seinen Tischreden schlug er mit
Begeisterung auf die Juristen los ("Juristen sind böse Christen").
Als er gegen seinen Willen gezwungen wurde, an Rechtsverhandlungen teilzunehmen,
schrieb er seiner Frau:
"Ich bin nun auch Jurist geworden. Aber es wird ihnen nicht gedeihen.
Es wäre besser, sie ließen mich einen Theologen bleiben. Käme
ich unter sie... ich möchte ein Poltergeist werden, der ihren Stolz
durch Gottes Gnade hemmen möchte." (1982 wurde der Ausspruch
dann von Steven Spielberg verfilmt. Obwohl ein Verstoß gegen die
öffentliche Ordnung i.S.v. __ 1 und 3 PolG Bad.-Württ. angedroht
wurde, gab die FSK den Film ab 16 Jahren frei).
Die kaiserlichen Berufsjuristen und ihre kurfürstlichen und reichsstädtischen
Kollegen entwickelten allmählich so etwas wie ein Herrschaftswissen,
demgegenüber selbst die Könige und Fürsten an Kompetenz
verloren. Deutlicher war diese Entwicklung im Gerichtswesen, auch wenn
sie ursprünglich in die entgegengesetzte Richtung lief. War das Gerichthalten
von alters her Angelegenheit des Landesherrn und seiner Richter, so bestand
für die Urteilsfindung eine Zuständigkeit der Schöffen,
d.h. der rechtlich nicht vorgebildeten "Urteiler". Die Urteiler
verstanden jedoch das rezipierte fremdsprachige Recht nicht. Die juristisch
gebildeten Richter mußten den Schöffen das Recht erläutern
und wurden zunehmend an der Rechtsprechung beteiligt. Da die Richter aber
in einem Dienstverhältnis zum Landesherrn standen, schwang sich eben
der Landesherr zum obersten Urteiler auf. Die Kabinettsjustiz entstand.
In Preußen etwa bestätigte, milderte oder verschärfte der
König Strafurteile und erließ in Zivilprozessen auf "Supplik"
einer Partei Machtsprüche. Das Supplikenwesen wurde von den preußischen
Königen selbst zunehmend als Unwesen empfunden. Unter dem cholerischen
Friedrich Wilhelm I. ("Qudiquid vult, vehementer vult") kam noch
dessen Abneigung gegen die Advokaten hinzu. Deswegen bestimmte er, daß
diese "Blutigel und Supplikenschreiber" einen kleinen schwarzseidenen
Mantel tragen müßten, um sie öffentlich gewissermaßen
zu outen. Am 15.11.1739 erging eine Verordnung:
"... wenn ein Advocat oder Procurator oder anderer dergleichen Mensch Sr. K. Mj. durch Soldaten" - das waren die berührtem langen Kerls, die u.a. dem König die Suppliken zuzustellen hatten - "Memoralien in Prozeß- oder Gnadensachen einreichen zu lassen sich unterstehen oder auch wenn ein oder der andere Leute aufwiegeln wird, um in abgethanen und in abgedroschenen Sachen Sr. K. Mj. Memoralien zu übergeben, alsdann S.K. M. einen solchen ohne Gnade aufhängen und neben ihn einen Hund hängen lassen wollen."
Die Sprache ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Aber
die Tendenz ist klar. Sie wurde von Friedrich dem Großen verständlicherweise
nicht geteilt, der im Katte-Prozeß einen Machtspruch seines Vaters
am eigenen Leib hatte erfahren müssen und unter dem Einfluß
der französischen Philosophen stand. Montesquieu bezeichnete es in
seinem 1748 erschienenen "Geist der Gesetze" als Merkmal eines
despotischen Staates, wenn der Monarch durch die Kabinettsjustiz in den
Gang der Rechtspflege eingreifen dürfe. In Zivilprozesse mischte sich
Friedrich der Große nicht mehr ein, wenn er auch auf die Bestätigung
der Strafurteile nicht verzichtete. Anders als sein Vater, von dem der
Ausspruch stammt, "die Civiljura verstehe ich nicht", hielt sich
Friedrich der Große für juristisch durchaus bewandert. Gerade
das gab ihm immer wieder Anlaß, sich über die Justiz zu ärgern,
die er für träge und verschlafen hielt. Zum Eklat kam es dann
im berühmten Müller Arnoldschen Prozeß, auf den ich noch
eingehen werde.
Die Liste der Prominenten, welche sich an der Juristen-Schelte beteiligten,
ließe sich ins Uferlose, d.h. bis in die übelsten Niederungen
erweitern. Hitler äußerte am 29. März 1942 bei einem seiner
berüchtigten Tischgespräche, wenn früher der Schauspieler
auf dem Schindanger begraben worden sei, so verdiene es heute der Jurist,
dort begraben zu werden. Niemandem komme der Jurist näher als dem
Verbrecher, und auch in der Internationalität gebe es zwischen den
beiden keinen Unterschied. Nach Hitler ist keine Steigerung im Negativen
mehr möglich, selbst wenn berufsmäßige Antifaschisten und
nun auch Scientologen immer wieder bemüht sind, Fortschreibungen in
die Gegenwart vorzunehmen. Ich verkneife es mir auch, den Rassenwahn des
Dritten Reichs mit dem Klassenwahn der "DDR" aufzurechnen. Die
Justizkritiker übergehe ich ebenfalls; denn deren Kritik richtet sich
mehr gegen das Rechtswesen als gegen die Juristen schlechthin.
Zumeist handelt es sich bei den Justizkritikern wie etwa Kurt Tucholsky
("Wenn da was fällt wie'n Donnerkeil - : Das nennt man ein Gerichtsurteil")
selbst um Juristen, die durchaus von ihren juristischen Fähigkeiten
Gebrauch machten.
2. Die wenigen Beispiel sollten als Beleg ausreichen, daß Juristen
unbeliebt sind. Es dürfte auch angeklungen sein, wieso Juristen unbeliebt
sind, nämlich weil sie eine Bedrohung für konkurrierende Berufszweige,
aber auch Gewaltinhaber bedeuten, weil sie ihren Mitmenschen lästig
fallen. Auf die Einzelaspekte komme ich nicht zurück. Im Moment gilt
es nur, das Augenmerk auf ein erstaunliches Phänomen zu richten: Obwohl
Juristen in den unterschiedlichsten Funktionen tätig sind, trifft
sie die Abneigung ihrer Mitmenschen pauschal. Ich kann mir das nur so erklären,
daß alle juristischen Berufe gemeinsame Merkmale aufweisen, die den
einheitlichen Menschentyp oder wenigstens Arbeitstyp des Juristen erzeugen.
Bei der Vielfalt der juristischen Berufe muß die Einheitlichkeit
durch die Juristenausbildung erreicht werden.
3. Jurist kann sich in Deutschland mit voller Berechtigung nur nennen,
wer die Befähigung zum Richteramt besitzt. Mit dieser Befähigung
stehen alle juristischen Berufszweige (Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Notar,
Wirtschaftsjurist, Verwaltungsjustiz, Richteramt) offen. Dies wird erreicht
durch eine einheitliche Ausbildung, die freilich im internationalen Vergleich
und historisch nicht selbstverständlich ist. International ist die
Zweigliedrigkeit der Juristenausbildung und die Orientierung am Richteramt
ein Unikum. Den Einheitsjuristen kennen auch andere Staaten, wie etwa die
USA. Dort ist allerdings die Ausbildung auf den Lawyer im weitesten Sinne
fixiert. Die deutsche Ausrichtung am Richteramt ist das Ergebnis einer
langen Entwicklung. Die Geschichte der deutschen Juristenausbildung hat
zwei Wurzeln. Die Justizaubildung hängt zusammen mit der Aufnahme
der doctores juris in die höheren Gerichte im 15. Jahrhundert, die
im ausgehenden 17. Jahrhundert die Einführung eines juristischen Vorbereitungsdienstes
und juristischer Staatsprüfungen zur Folge hatte. Auch die Advokaten
mußten ihre theoretischen und praktischen Kenntnisse in einem öffentlichen
Examen unter Beweis stellen. Für den Erwerb der praktischen Kenntnisse
wurde ein Vorbereitungsdienst geschaffen, der ein Universitätsstudium
voraussetzte. Mitte des 17. Jahrhunderts waren für eine Anstellung
bei den höheren Kollegialgerichten im Vorbereitungsdienst mehrere
Prüfungen abzulegen. Für das erste Examen (Auskulatur) mußte
der Kandidat mindestens 20 Jahre alt, "von gutem Herkommen und guter
Conduite sein und über eigene Mittel zur Subsistenz verfügen".
Nach der Ausbildung als Auskulator folgte das Referendarexamen, das für
die Anstellung an den unteren Gerichten genügte. Der Referendar konnte
sich nach Ableistung der Referendarzeit aber auch zum Assessorexamen anmelden.
Die Prüfungen erfolgten beim Berliner Kammergericht, waren öffentlich
und erforderten eine "ziemliche Wissenschaft in theoria et praxi".
Von 1793 an wurde der Vorbereitungsdienst für alle Richter, Rechtsanwälte,
Advokaten und Notare obligatorisch. 1869 erfolgte eine grundlegende Ausbildungsreform.
Die Auskulatur wurde abgeschafft. Der Schwerpunkt der Juristenausbildung
verlagerte sich auf das nur vierjährige Referendariat. Das Referendarexamen
wurde zu einer reinen Eingangsprüfung zum Vorbereitungsdienst. Die
Prüfungskommissionen wurden fast ausschließlich mit Richtern
besetzt. Das Rechtsstudium war eine ausschließlich theoretische Ausbildung
und konzentrierte sich auf das gemeine Zivilrecht. Dennoch sollte die Prüfung
erkennen lassen, ob der Kandidat "Einsicht in das Wesen und die geschichtliche
Entwicklung der Rechtsverhältnisse" und "die für seinen
künftigen Beruf erforderliche allgemeine rechts- und staatswissenschaftliche
Bildung erworben hat". Dem entsprach die Universitätsausbildung
ersichtlich nicht, so daß einerseits im Vorbereitungsdienst ergänzende
Übungskurse und Arbeitsgemeinschaften eingeführt werden mußten,
andererseits das Rechtsstudium praxisnäher gestaltet werden mußte.
Im Studium konzentrierte sich die Ausbildung auf die Reichsjustizgesetze,
aber endlich auch auf das öffentliche Recht. Die Ausbildung zum Verwaltungsjuristen
hatte 1727 mit der Einführung eines praktischen Studiums für
künftige Verwaltungsbeamte bei den Kriegs- und Domänenkammern
begonnen, die Kenntnisse von Ackerbau und Viehzucht, Brau- und Branntweinwesen
vermitteln sollte. Seit war 1840 das Polizeiwesen dazugekommen. Dem war
seit 1770 eine Prüfung u.a. zu Fragen des Naturrechts gefolgt, bei
der auch eine juristische Relation anzufertigen war. Hardenberg hatte 1817
verbindlich ein Rechtsstudium neben dem kameralistischen Studium vorgeschrieben.
Seit 1846 konnte Regierungsreferendar werden, wer ein juristisches Studium
abgelegt hatte. Seit 1879 war die universitäre Ausbildung einheitlich.
1904 gab es folgende Prüfungsfächer: Zivilrecht, römische
und deutsche Rechtsgeschichte, Grundzüge des römischen und deutschen
Privatrechts, Strafrecht und Strafprozeßrecht, Kirchenrecht, Staatsrecht,
Völkerrecht, Grundlagen des Verwaltungsrechts, der Nationalökonomie
und der Finanzwissenschaft. Da schon die Universitätsausbildung lebenstaugliche
Juristen hervorbrachte, nahm das Referendarexamen den Charakter einer Universitätsabschlußprüfung
an. In den Prüfungskommissionen dominierten jetzt die Universitätslehrer.
In der Weimarer Zeit wurde der Vorbereitungsdienst verkürzt. Die Justizlastigkeit
der Juristenausbildung blieb erhalten. Von den vier Examensklausuren entstammten
zwei dem Zivilrecht. Der Ausbildung für den Verwaltungsdienst wurde
erst im Referandariat stärker Rechnung getragen. Für die Verwaltungsjuristen
schloß sich ein Regierungsreferendariat an, das bis nach dem Zweiten
Weltkrieg Bestand hatte. Hiervon rückte man dann aber ab. Die Befähigung
zum Richteramt ist gleichwohl zugleich die Befähigung zum höheren
Verwaltungsdienst. Dem entspricht die Lage in der Gegenwart.
4. Auch wenn die Juristenausbildung aus zwei Wurzeln gespeist wird,
auch wenn der Baum in Schieflage geraten ist, weil eine Wurzel, die des
Verwaltungsjuristen, verkümmerte, herrscht in Deutschland immer noch
das Ausbildungsziel des Einheitsjuristen vor. Der Einheitsjurist bedeutet
eine Absage an die Idee des juristischen Spezialisten. Ob der allseits
verwendbare Jurist eine anachronistische Fiktion darstellt, ob aus ihm
der nirgendwo verwendbare Jurist geworden ist, ist eine Frage, die uns
alle existentiell angeht. Die Antwort setzt voraus, daß wir die zuvor
angedeutete Situation des herkömmlichen Einheitsjuristen einer näheren
Betrachtung unterziehen.
1. Der gefährdete Jurist ist ein Bild von Hans Schneider.
Der gefährdete Jurist, in: Festschr. f. Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 347 ff.
Ehe von einer Gefährdung zu reden ist, muß ehrlicherweise
davon ausgegangen werden, daß Juristen für ihre Mitmenschen
zur Gefahr werden können, wenn sie sich mit den jeweiligen Machthabern
verbünden. Dadurch gefährden die Juristen sich selbst. Die Nähe
zum Machthaber macht die Stellung der Juristen gefährlich. Exemplarisch
verweise ich auf den Aufruf des Rebellenführers Cade im Drama Heinrich
der Sechste (II. Teil, 4. Akt, 2. Szene) von William Shakespeare:
"The first thing we do, let's kill all the lawyers"
Die negative Seite der Juristen brachte am besten Alexis de Tocqueville
zum Ausdruck. Er schrieb, man könne mühelos feststellen:
"daß sich in allen zivilisierten Ländern neben einem
Despoten, der befiehlt, fast immer ein Rechtsgelehrter befindet, der dessen
willkürliche und unzusammenhängende Willensakte in eine Ordnung
und Übereinstimmung bringt. Die allgemeine Liebe zur Macht, die die
Könige erfüllt, ergänzen sie durch die Freude an der Methode
und die Kenntnis von den Einzelheiten der Herrschaft, über die sie
selbstverständlich verfügen. Jene verstehen es, die Menschen
vorübergehend zum Gehorsam zu zwingen; diese besitzen die Kunst, sich
fast freiwillig zu ständiger Fügsamkeit zu beugen. Die einen
liefern die Macht, die andern das Recht. Jene gelangen durch Willkür
zur höchsten Macht, diese durch Legalität. An dem Schnittpunkt,
an dem sie sich begegnen, entsteht ein Despotismus, der der Menschheit
kaum die Luft zum Atmen läßt; wer nur an den Fürsten denkt,
nicht an den Juristen, kennt nur die eine Seite der Tyrannei, um das Ganze
zu erfassen, muß man beide zugleich im Auge haben." (Die gesellschaftlichen
und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789, 1836).
Auch im Dritten Reich waren Juristen nach den Normen des nationalsozialistischen
Staates tätig, auch dort stritten sich namhafte Staatsrechtlehrer
um die Rolle des Kronjuristen, obwohl hierfür letztlich überhaupt
keine Nachfrage bestand. An dem Faktum, daß sich auch Juristen dem
Führerstaat andienten, läßt sich nicht rütteln. Die
Tyranneianfälligkeit der Juristen belegen bis in die jüngere
Vergangenheit die Aktivitäten der DDR-Jurisprudenz, wenn man diese
Bezeichnung überhaupt verwenden darf. Die Tyranneianfälligkeit
besteht nicht nur in Diktaturen. Auch in Demokratien besteht die Gefahr,
daß Juristen sich entweder als Gralshüter konservativer Mehrheitsmeinungen
oder auch als Zeitgeistverstärker mißbrauchen lassen. Auf die
Nähe zum Machthaber kommt es dann nicht einmal an. Selbst Gerichte
sind für die Neigung anfällig, ihre Aufgabe, im Namen des Volkes
Recht sprechen, dahingehend mißzuverstehen, daß sie sich zu
Volkes Stimme aufschwingen. Einfallstore hierfür bieten die Generalklauseln
im Privatrecht, offene Tatbestände im Strafrecht und vor allem unbestimmte
Rechtsbegriffe im öffentlichen Recht. Erwähnt sei nur das Unheil,
daß man mit den "guten Sitten" im Gewerberecht oder der
"öffentlichen Ordnung" im Polizeirecht schon angerichtet
hat. Auch die "Werteordnung des Grundgesetzes" ist alles andere
als unproblematisch. Um in dieser Feierstunde nicht vor der eigenen Haustür
kehren zu müssen, gebe ich ein Beispiel aus dem Mutterland der political
correctness, den USA.
Nur die Älteren unter Ihnen, die wie ich Zeitzeugen waren, können
sich vorstellen, daß der Rock & Roll in den frühen 50er
Jahren weltweit nicht nur als Kulturschock empfunden wurde, sondern es
auch war. Das gilt vor allem für seine Heimat. Ich will keine lange
Reden über die Wurzeln dieser Musik halten (hierfür ist ein eigener
Vortrag auf dem Tübinger Doktorentreffen am 13.6.1997 vorgesehen).
Mit der Unterhaltungsmusik der Nachkriegsjahre, mit dem schwarzen und weißen
Big-Band-Swing, mit der Musik, die von den sog. major record companies
und der Komponistengewerkschaft ASCAP gepflegt wurde, hatte der Rock &
Roll nichts zu tun. Er entstand aus einer Mischung von weiterentwickelter
Country- oder Hillbilly-Musik und Rhythm & Blues, damals race music
genannt. Die Musik der ländlichen weißen und schwarzen Unterschicht
wurde nicht nur verschmolzen; das Ergebnis war zum Entsetzen des Establishments
auch noch erfolgreich. Zwar brachten zunächst nur kleine regionale
Plattenfirmen die neue Musik heraus. Aber gekauft wurde die Musik überall
von der zahlungskräftigen Taschengeldgeneration, so daß die
großen Firmen den überregionalen Vertrieb übernehmen mußten.
Zuerst fiel gar nicht auf, daß Sänger wie Chuck Berry und Fats
Domino in den weißen Charts auftauchten. Bei Bill Haley wurde man
aufmerksamer, weil er die ersten Krawalle hervorrief. Der Knackpunkt war
Elvis Presley, den viele ursprünglich für einen Schwarzen hielten,
bis er 1956 im Fernsehen auftrat. Er war zu diesem Zeitpunkt schon zu populär,
um - von erfolgreichen Domestizierungsversuchen abgesehen - massiv gegen
ihn vorzugehen. Also suchte man als Sündenbock Alan Freed, der es
gewagt hatte, die Titel farbiger Sänger im Original, d.h. nicht weißgewaschen,
zu senden. Dieser Mann, der 1952 den Begriff Rock & Roll geprägt
hatte und der einer der populärsten Diskjockeys und Konzertveranstalter
der frühen 50er Jahre war, wurde nun mit juristischen Mitteln zur
Strecke gebracht. Hierzu mußte man nur untersuchen, ob und in welchem
Umfang die Hitparaden manipuliert waren und ob der Juke-Box-Betrieb vom
organisierten Verbrechen manpipuliert wurde. Hinzu kamen von den Kirchen
propagierte Theorien über die sexuelle Verrohung der Jugendlichen
durch die triebhafte Musik. Es fehlte nur, daß kommunistische Subversion
gewittert wurde, wie umgekehrt der Rock & Roll im Ostblock als kapitalistischer
Exzeß verboten war. In Deutschland hätte man das unter trockene
Begriffe wie "Korruption in der minderjährigenbezogenen Unterhaltungsindustrie"
gebracht. In den USA sprach man plastischer von "Payola". Alan
Freed verlor Job und Reputation. Der Strafprozeß schleppte sich über
Jahre, bis die Anwaltskosten sein Vermögen aufgezehrt hatten. Er erhielt
dann eine sechsmonatiger Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine Geldstrafe
in Höhe von 300 $. 1964 starb er bankrott als Alkoholiker im Alter
von 42 Jahren. Interessanter als sein persönliches Schicksal ist die
Feststellung, daß ab 1959 sich niemand mehr traute, unverfälschten
Rock & Roll zu produzieren oder zu senden. Die Weißen machten
wieder ihre Musik und die Schwarzen flüchteten sich in die frühe
Soul-Musik. Der Versuch einer musikalischen Rassenintegration war mit rechtlichen
Mitteln abgewürgt worden. Ironischerweise wurde dann die schwarze
Musik von Britischen Gruppen imitiert und in die USA reimportiert. Das
Establishment hielt offenbar den Akzent der Beatles und der Rolling Stones
für kultivierter als die Originale. Das hat sich später gerächt.
Die juristisch abgesicherten Reglementierungen der Jugendkultur konnten
den Dammbruch Mitte der 60er Jahre nicht verhindern. In Deutschland wäre
das vielleicht nicht so passiert. Dennoch verlief die Entwicklung - vom
Rassenproblem abgesehen- ähnlich, obwohl die Anwaltorientierung der
amerikanischen Juristen diese politikanfälliger macht.
2. Die Gefahr, die von Juristen ausgehen kann, wenn sie sich als Sprachrohr
des jeweiligen Machthabers oder Zeitgeists mißbrauchen lassen, ist
die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, daß
Juristen und namentlich Richter sich wegen ihrer durch die Juristenausbildung
mitgestaltete Persönlichkeitsstruktur als Garant für die Rechte
der Bürger verstehen und immer wieder in Konflikte mit den Machthabern
geraten. Einige Beispiele wurden bereits erwähnt. Daß unter
Ludwig XIV. die Richter nichts zu lachen hatten, liegt auf der Hand. Colbert
betrieb nicht nur eine Finanzreform, sondern vor allem eine Justizreform
Schon damals ging es darum, "d'établir une jurisprudence certaine
et fixe". 1688 wurde eine Denkmünze über die Reinigung des
Richterstandes herausgegeben, die die Umschrift trug "Emendati judices".
Ludwig XIV. wiederum war das große Vorbild Friedrich des Großen,
der alles verschlang, was Voltaire, von Hause aus Jurist, ihm zu diesem
Thema vortrug. Zusammen mit dem ehrgeizigen Cocceji räumte er in der
Justiz auf. Von den 47 Räten des Kammergerichts wurden 17 über
Nacht entlassen. 1748 wurde eine Erinnerungsmünze herausgebracht mit
der Umschrift "Emendato jure". Die Anrede als "grand juge"
durch Voltaire scheint Friedrich in den Kopf gestiegen zu sein. Zeit seines
Lebens widmete er dem Rechtswesen größte Aufmerksamkeit, bis
er die Kontrolle des Großkanzlers Fürst selbst in die Hand nahm.
1775 schrieb er:
"Ich kann Euch nicht verhalten wie es mir vorkommt, als wenn die
Justiz wieder anfängt einzuschlafen; ich will dergleichen Kleinigkeiten
kurz und guth abgetan wissen, damit meine Unterthanen nicht ruiniert werden".
Fürst reagierte, obwohl ihm der König androhte "Wir werden
Unfreunde", nur unzureichend, indem er einige Advokaten kassierte.
Friedrich erließ darüber hinausgehend 1776 ein Strafgesetz "wider
das einreißende pflichtwidrige Betragen nicht allein der Advokaten,
sondern auch der Räthe in den sämmtlichen Justizcollegien".
Als sich herausstellte, "daß die Prozesse wieder anfingen, gar
zu sehr zu trainieren", wurde das Strafgesetz ein Jahr später
um die Bestimmung erweitert:
"Wenn die Richter dennoch fortfahren zu verschleppen, so werde
einen dergleichen Richter, ohne erst eine weitläufige Untersuchung
anzustellen, sofort cassieren und nach der Festung schicken, um ein Exemple
zu statuieren."
Weitere zwei Jahre später kam es zum berühmten Prozeß
des Müllers Arnold. Arnold war Erbpächter einer Mühle des
Grafen Schmettau. 1770 legte der Landrat von Gersdorff, ein Gutsnachbar,
Karpfenteiche an, wodurch Arnold nach dessen Behauptung das Mühlwasser
und damit die Verdienstmöglichkeit entzogen wurde. Seit 1771 geriet
er daher mit dem Pachtzins in Rückstand. Nach langem Hin und Her und
verschiedenen Zivilprozessen wurde der Müller 1777 zur Zahlung bei
Vermeidung des Verkaufs der Mühle verurteilt. Im Jahr darauf erfolgte
der Verkauf. Im August 1779 erschien der Müller im Schloß zu
Potsdam und veranlaßte den König zur Anordnung einer unparteiischen
Untersuchung. Hiermit wurde ein Oberst und ein von der zuständigen
neumärkischen Regierung zu bestellender Kommissar benannt. Beide kamen
zu unterschiedlichen Ergebnisse. Der Oberst hielt die Beschwerden des Müllers
für begründet. Offenbar glaubte der König ihm mehr; denn
am 29. September 1779 teilte er der neumärkischen Regierung mit, sie
sei wider alle gesunde Vernunft an die Sache gegangen und nicht das Brot
wert. Sie solle die Sache mit Arnold sogleich in Ordnung bringen und ihn
klaglos stellen. Die Regierung veranlaßte daraufhin den Müller,
gegen den Landrat von Gersdorff Klage zu erheben. Hierauf ließ Arnold
sich ein, unterlag aber am 28. Oktober 1779. Die Müllerin beschwerte
sich unter Verschweigen dieser Entscheidung beim König, der immer
ungeduldiger wurde und die zuständigen Behörden anwies, die Sache
endlich zu Ende zu bringen. Die Behörden mußten jedoch auf den
schwebenden Prozeß verweisen, was den König veranlaßte,
am 28. November 1779 dem Kammergericht anzubefehlen, "ganz kurz und
ohne soviel Weitläufigkeiten die Sache auszumachen" und dies
"fordersamst zu berichten". Schon am 9. Dezember bestätigte
das Kammergericht die Entscheidung der Vorinstanz: Wie üblich lautete
die Eingangsformel "In Sachen.. erkennen Wir Friedrich usw. für
Recht...". Arnold hatte also auch in der zweiten Instanz verloren.
Der König verlangte sofort eine Abschrift des Urteils, die er auch
am 10. Dezember erhielt. Am folgenden Tag berief er den Großkanzler
und die drei Kammergerichtsräte, die das Urteil abgefaßt hatten,
zu sich ins Schloß und empörte sich, das Obertribunal habe mit
der Eingangsformel des Urteils: "Meinen Namen cruel mißbraucht".
Ein anderer König, Elvis Presley, griff das später auf mit dem Titel "Don't be cruel" (Von Otis Blackwell und Elvis Presley. Copyright 1956 Shalimar Music Corp. / Elvis Presley Music Inc. New York) unbewußt auf. Die Querverbindung ist gar nicht einmal so abwegig, wenn es stimmen sollte, daß Presley deutsche Vorfahren hat. Sein Urahn Johann Valentin Pressler ist angeblich 1709 auf dem Pfälzer Dorf Niederhochstadt nach Amerika ausgewandert.
Als der Großkanzler darauf hinwies, daß das Kammergericht
das Urteil gefällt habe, entließ ihn der König mit dem
Satz "Marsch, Seine Stelle ist schon vergeben". Die drei Kammergerichtsräte
wurden für verhaftet erklärt und in das Stadtgefängnis verbracht.
Am gleichen Tag wurde die Verhaftung der zuständigen Verwaltungsbeamten
verfügt und ihr vorgesetzter Regierungspräsident entlassen. Der
Justizminister des Kriminaldepartements von Zedlitz erhielt den Befehl,
durch das Kriminalkolleg, d.h. durch den Strafsenat des Kammergerichts,
über die Richter "nach der Schärfe des Gesetzes und zum
mindesten auf Kassation und Festungshaft unter Schuldigsprechung zu voller
Entschädigung des Arnold" das Urteil sprechen zu lassen. Der
Strafsenat stütze sich jedoch darauf, daß im Zivilprozeß
der Instanzenzug noch gar nicht erschöpft sei. Im übrigen falle
den Angeklagten keine vorsätzliche Ungerechtigkeit zur Last. Es sprach
daher die Richter frei. Ebenso argumentierte der Minister. Der König
äußerte, es sei im lieb, daß er den Minister bei dieser
Gelegenheit kennen gelernt habe. Wenn dieser und das Kammergericht das
gewünschte Urteil nicht sprechen wolle, tue er es selbst. Er entließ
daraufhin die Richter des Zivilgerichts, die nicht in seinem Sinne entschieden
hatten und verurteilte sie zu einjähriger Festungshaft. Gegen den
Strafsenat und gegen Minister von Zedlitz wagte er kein Vorgehen mehr.
Erst unter Friedrich Wilhelm II. wurde der Prozeß gegen die Zivilrichter
wieder aufgenommen, und die früheren Verfügungen als Justizirrtum,
wozu der "ruhmwürdige Justizeifer" seines Onkels durch unzureichende
Berichte verleitet worden sei, aufgehoben. Man mag zum Müller Arnold-Prozeß
stehen, wie man will. Er hatte reinigende Wirkung und gab von Carmer die
Chance zu einer grundlegenden Justizreform. Auf die Kodifikationen Carmers
gehe ich nicht näher ein. Die Lobesreden auf das preußische
Allgemeine Landrecht haben die meisten von Ihnen bei Beginn Ihres Studiums
1994 anläßlich der 200-Jahr-Feiern vermutlich miterlebt. Bei
den Kodifikationen war aber nunmehr die Frage der Beamtenentlassungen (auch
die Richter waren Beamte) und der Machtsprüche zu klären. In
Süddeutschland, wo die Beamtenverhältnisse auf privatrechtlichen
Dienstverträgen beruhten, kamen einseitige Beamtenentlassungen nicht
in Betracht. Im Schrifttum wurde das nun als gemeinrechtliches Gedankengut
verteidigt. So setzte sich auch in Preußen eine Formulierung durch:
"Kein Civilbediensteter soll des ihm einmal anvertrauten Amtes ohne
Urteil und Recht wieder entsetzt werden." Weiter wurde geregelt, daß
Machtsprüche unstatthaft seien. Hieran wäre beinahe das ALR gescheitert.
Letztlich ließen sich aber das Lebenzeitprinzip im Beamten- und Richterrecht
wie auch die Unabhängigkeit der Richter nicht verhindern.
Die persönliche richterliche Unabhängigkeit steht in untrennbarem
Sachzusammenhang mit der sachlichen Unabhängigkeit der Gerichte. Zunehmend,
zunächst nur in Zivilrechtsstreitigkeiten, später auch im Staat-Bürger-Verhältnis,
nahmen die Gerichte im Verhältnis zur Krone eine Sonderstellung ein.
Der kontinentale Richterstand ist erst im 18. Jahrhundert aus dem Beamtenstand
herausgelöst worden. Der Weisungsfreiheit korrespondiert die Bindung
an das Gesetz. Die Gefährdungen des Juristenstandes und selbst des
Richterstandes sind dadurch nicht verschwunden. Heinrich Triepel führte
1926 zwar in seiner Berliner Rektoratsrede aus, daß die Staatsrechtslehrer
im Schatten des Rechtsstaates nicht mehr zu befürchten brauchten,
wegen ihrer Theorien um Amt und Brot gebracht zu werden. ( Staatsrecht
und Politik, 1927, S. 13 f.). Wenige Jahre später erfolgten nach der
nationalsozialistischen Machtergreifung die größten Säuberungsaktionen
in der deutschen Geschichte. Hitler ließ sich die Sondervollmacht
absegnen, "ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein",
jeden Deutschen bei Pflichtverletzungen "ohne Rücksicht auf wohlerworbene
Rechte" und "im besonderen ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren
aus seinem Amte, aus seinem Rang und seiner Stellung zu entfernen."
(RGBl. I S. 247). Nach dem 2. Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung
kam es zwar auch zu Säuberungsaktionen. Verglichen mit den historischen
Beispielen sieht sich der Berufsstand der Juristen indessen keiner ernsthaften
Gefahr durch den Machthaber ausgesetzt. Die einzige Bedrohung besteht darin,
daß Juristen lästig fallen und die Prüfung provozieren,
ob man sie nicht auch entbehren könnte.
Der "lästige Jurist" ist ein Ausdruck, den Ernst Forsthoff
in einem vielbeachteten Vortrag aus dem Jahr 1955 prägte.
Abgedruckt in: Ruperto Carola. Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg, Bd. 17, 1955, S. 66 ff. = DÖV 1955, 648 ff. = Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 227 ff.
Forsthoff führte aus, daß, wie der souveräne Flächenstaat
eine Schöpfung der Juristen war, der Staatsdienst bis ins 20. Jahrhundert
hinein in seinen höheren Funktionen Juristendienst gewesen sei. Das
"Juristenprivileg" befinde sich aber nunmehr im Abbau. Der entscheidende
Terrainverlust des Juristen in der Verwaltung sei mit seiner Verdrängung
durch den fachlich vorgebildeten Beamten eingetreten. Beispielsweise in
der Schulverwaltung, Gesundheitsverwaltung und Verkehrsverwaltung sei der
Jurist in die Rolle des Justitiars zurückgedrängt, d.h. er nehme
an der eigentlichen Verwaltung nur noch am Rand in einer Art juristischen
Unfallverhütungsstation teil. Den Bedeutungszuwachs des Fachwissens
begründete Forsthoff mit dem Wandel der Staatsaufgaben. Der moderne
Staat sei zunehmend gezwungen, Sozialbereiche zu sanieren. Dies erfodere
engagiertes Fachwissen, während der Jurist neutral und unengagiert
sei. Da aber die Sozialwissenschaftler, Planer u.dgl. nach perfekten Lösungen
drängten, werde der Jurist Antipode des zügigen Verhaltens und
falle dadurch lästig. Der Akzent verlagert sich vom staatspolitisch
Wünschenswerten zum rechtlich Machbaren. Der Verwaltungsjurist wird
m.a.W. auf die richterliche Funktion abgedrängt. Forsthoff hat das
- 1955 - ausdrücklich begrüßt:
"Man hat an der weiten Auslegung der Gerichtsbarkeit Kritik geübt. Wie wir glauben, zu Unrecht. Denn die weitgehende Überantwortung der Verwaltung an den Fachmann macht in einem Rechtsstaat die gerichtliche Kontrolle umso unabweislicher."
Forsthoff sah aber ganz klar:
"Freilich ist das nicht der Dienst, den der Jurist ehemals dem
Staat geleistet hat; denn dieser Dienst geschah in der Verwaltung selbst."
Diese Analyse war wegweisend bis in die jüngste Vergangenheit.
Forsthoff malte den Richterstaat an die Wand. Von einer Vollendung des
Rechtsstaats werde nur dann gesprochen werden können, wenn die Ziele,
Formen und Verfahren der staatlichen Tätigkeiten die Ausprägung
zurückgewännen, die dem Juristen gemäß sei. Dem "Juristen
gemäß" wurde offenbar auf den Richter oder Justizjuristen
bezogen. Auch was der Verwaltungsrecht betrifft, entwickelte sich die Bundesrepublik
zum Richterstaat. Die Besonderen Gewaltverhältnisse wurden ausgeräumt,
Beurteilungsspielräume beseitigt, selbst von der planerischen Gestaltungsfreiheit
blieb wenig übrig. Umgekehrt war die Verwaltung bestrebt, ihre Entscheidungen
gerichtsfest zu treffen. Für die fachlich engagierten Nichtjuristen
in der Verwaltung fielen die Juristen immer lästiger. Noch schlimmer
wurde es allerdings, als die Juristen in einer kurzen Zwischenphase ihr
gesellschaftspolitisches (nicht staatpolitisches) Gewissen entdeckten und
sich als Sozialingenieure ohne Auftrag gerierten. Nun gibt es nichts Schädlicheres
als halbgebildete Dilettanten. Die Umettiketierung der Verwaltungslehre
in Verwaltungswissenschaft konnte das nicht kaschieren. Jedenfalls mischten
sich die Verwaltungsgerichte in naturwissenschaftliche und technische Diskussionen
ein, legten eigenständig Lärmgrenzwerte fest und betätigten
sich fachfremd, bis es ihnen selbst unheimlich wurde. Der Rückzug
erfolgte zum Teil unspektakulär über normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften,
über den Beurteilungsspielraum bei technischen Sachverhalten u.ä.
Die Hauptfluchtschneise war aber die Betonung von Formalien. Die Entdeckung
von Verfahrensfehlern gehört zu den typischen juristischen Fähigkeiten.
Die Beachtung von Formalien ist auch im Interesse der Rechtssicherheit
wichtig. Verfahren sind dennoch kein Selbstzweck, es sei denn, es gelingt,
besondere Wertigkeiten in Verfahrensvorschriften hineinzuinterpretieren.
Daher lag es nahe, der Bürgerbeteiligung die höheren Weihen der
demokratischen Verfahrensgestaltung zu verleihen und vor allem den Grundrechtsschutz
durch Verfahren zu propagieren. Die Juristen hatten ihr Traumziel erreicht:
Mit rechtsstaatlich gutem Gewissen dominierte wieder der Justizjurist die
Verwaltung. Der Arbeitsanfall der Verwaltungsgerichte wuchs. Fast alle
lebten glücklich und zufrieden. Wenn kaum noch ein Großvorhaben
realisiert werden konnte, machte das nichts. Die Verwaltung zehrte immer
noch von der Substanz. Dann kam jedoch das Großvorhaben, das alle
überforderte: Die Wiedervereinigung. Nunmehr war es unvermeidbar,
die Verfahren für Infrastrukturvorhaben zu beschleunigen und zu vereinfachen.
Hierzu trugen Verfahrensbeschleunigungsgesetze bei, die die Bedeutung von
Verfahrensvorschriften auf das Normalmaß zurückschnitten und
deshalb für ganz Deutschland Modellcharakter hatten. Auch gelang es,
die richterliche Kontrolldichte angemessen zu reduzieren. Die Juristen
sind folglich nicht mehr ganz so lästig, jedoch selbstverständlich
nicht entbehrlich..
Zu klären bleibt, ob durch die jüngsten Entwicklungen Juristinnen
und Juristen in einem beträchtlichen Teil nutzlos geworden sind. Die
Frage bewegt in erster Linie den juristischen Nachwuchs. Die äußeren
Anzeichen sind ungünstig. Die Chancen, eine adäquate juristische
Stelle zu bekommen, belaufen sich auf angeblich 54 bis 10 %. Das Institut
für deutsche Wirtschaft verzeichnete 1996 49 Bewerber pro offene Stelle.
Justiz und Verwaltungsgerichtsbarkeit sind weitgehend besetzt. Die Anwaltschaft
klagt über Konkurrenzdruck. Rechtsprobleme gibt es aber mehr denn
je. Offenbar bekommt der Juristenstand jetzt die Konkurrenz durch Wirtschaftsprüfer,
Steuerberater, Fachhochschulabsolventen u. dgl. zu spüren. Werden
dadurch etwa Volljuristen überflüssig ? Soll man stärker
zur Spezialisierung schreiten ? Die Antwort ist eindeutig: Nur Einheitsjuristen
sind überall einsetzbar. Eine Abkehr vom Einheitsjuristen steht nicht
zu Debatte. Jedoch muß klar sein, was mit dem Konzept des Einheitsjuristen
gemeint ist. Einheitsjurist steht für bestimmte Fähigkeiten,
Fertigkeiten, Denkrichtungen und ein entsprechendes Standesbewußtsein.
Alle Juristen sind Organe der Rechtspflege. Der Rechtsstaat wurde erst
dadurch verwirklicht, daß man die Verwaltung an Gesetz und Recht
band, und hierbei leistete die Ausrichtung auf die Befähigung zum
Richteramt gute Dienste. Die Orientierung am Richteramt macht die Juristen
zur staatstragenden Schicht im sozialen Rechtsstaat. Das ist gerade in
Deutschland wichtig, wo wir ohnehin an einer staatsideologischen Unterbilanz
leiden. Eine Ausrichtung des Juristenstands auf den Anwaltsberuf wäre
weniger sachgerecht. Auch Anwältinnen und Anwälte sollten gelernt
haben, aus der Richterperspektive zu handeln. Die Formulierung "Befähigung
zum Richteramt" ist allerdings irreführend. Abzustellen ist auf
die Fähigkeiten eines Richters (Unparteilichkeit, Distanz, Entscheidungsfreude,
Abwägungsvermögen). Nicht maßgeblich ist die Richterlaufbahn.
Die wenigsten Juristinnen und Juristen werden dazu ausgebildet, die Richterlaufbahn
zu ergreifen (und schon gar nicht die Richterlaufbahn nur bei den Zivil-
und Strafgerichten). Wenn die Fixierung auf den Einheitsjuristen weiterhin
zur Folge hat, daß in Studium und Vorbereitungsdienst vorwiegend
Justizjuristen herangebildet werden, wäre das ein grobes Mißverständnis.
Einheitsjuristen sind Juristinnen und Juristen, die das methodische Gerüst
und die Grundkenntnisse erworben haben, sich in jedem juristischen Berufsfeld
zu orientieren. Diese brauchen auch nicht die Konkurrenz etwa von Wirtschaftsprüfern,
Steuerberatern und Fachhochschulabsolventen zu fürchten; denn diese
verfügen nur über juristische Kenntnisse und Fähigkeiten
auf ihrem Spezialgebiet. Auch Einheitsjuristen benötigen selbstverständlich
Spezialkenntnisse. Auf Grund ihrer Grundlagenausbildung sind sie jedoch
in der Lage, sich solche Spezialkenntnisse unschwer zu verschaffen. Dann
wird es immer Möglichkeiten geben, sie nutzbringend einzusetzen.
Meine Damen und Herren ! Sie haben das Examen bestanden. Dafür
haben Sie viel gelernt, was Sie im Leben nie mehr brauchen werden, was
aber für Ihr Berufsleben dennoch unerläßlich ist. Die Summe
des Stoffs, den wir Ihnen vorsetzten, sollte Sie mit der spezifisch juristischen
Denkweise vertraut gemacht haben, die es Ihnen ermöglicht, Sachverhalte
zu analysieren, Argumente zu sammeln und zu gewichten und überall
auch ohne spezielle Sachkenntnisse, aber auf der Grundlage genereller Rechtskenntnisse
mitzureden und mitzugestalten. Das macht Sie vielleicht unbeliebt und lästig,
aber andererseits unentbehrlich. Fazit: Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn
Sie erst einmal die Befähigung zum Richteramt erlangt haben, werden
Sie vielleicht etwas älter sein als andere Berufsanfäger, dafür
aber überall einsetzbar. Einheitsjuristen werden gebraucht und bleiben
nützlich. Sorgen wir dafür, daß die Einheitsjuristen bleiben.