PROF. RONELLENFITSCH

Der nutzlose Jurist

I. Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Abschlußfeier des Examensjahrgangs 1996. Grund zum Feiern haben zunächst alle, die das Examen bestanden haben. Dies ist Ihr Tag. Grund zum Feiern haben ferner alle, denen diejenigen, die das Examen bestanden haben, mitzuverdanken haben, daß sie es bestanden haben, also Eltern, Verwandte, Freunde, Bekannte, Repetitoren und hoffentlich auch der hiesige Lehrkörper. Sie freuen sich mit den erfolgreichen Examenskandidatinnen und Examenskandidaten. Ich wiederum freue mich, daß so zahlreich erschienen sind, die Grund zum Feiern und zur Freude haben. In dieser freudigen Feierstunde wollen wir aber nicht diejenigen vergessen, die das Examen nicht oder nicht so, wie erhofft, bestanden haben. Sie hatten Pech und können sich dennoch auch freuen, nämlich über die Chance eines weiteren Versuchs oder schlicht darüber, daß sie überhaupt Jura studiert haben. Entgegen verbreiteter Meinung kann jemand, der sich zur Aufnahme des Jurastudiums entschlossen hat, im Leben gar nicht völlig gescheitert sein. Rudimentäre Rechtskenntnisse machen oft lebenstauglicher als der qualifizierte Abschluß in einem anderen sozial- oder gar naturwissenschaftlichen Fach ohne realistische künftige Beschäftigungschance. Selbst diejenigen, die das Jurastudium abgebrochen haben, weil sie ihre hierfür fehlende Eignung erkannten, können damit noch hausieren gehen. Die Sympathie der Nicht-Juristen ist ihnen sicher. Denn Juristinnen und Juristen sind beim Rest der Menschheit nicht beliebt, werden angefeindet, als lästig empfunden und schließlich gar als unnütz abgetan. Damit bin ich beim Thema, das ich mir für die heutige Veranstaltung ausgesucht habe. Was wäre schließlich eine Feier ohne einen, wenn auch knappen Vortrag. Nun liegt es mir fern, Ihnen die gerade erst betonte Freude zu vermiesen, indem ich Ihnen Mahnungen für Ihren weiteren Lebensweg aufnötige. Einige Bemerkungen zum Juristenberuf, dem Sie jetzt einen entscheidenden Schritt näher gekommen sind, möchte ich Ihnen trotzdem mitgeben. Ich stelle die Frage, die sich juristische Laien auch stellen: Wozu braucht man überhaupt Juristinnen und Juristen ?

II. Der unbeliebte Jurist

1. Keine Gesellschaft leistet sich den Luxus ausgebildeter Juristen, wenn diese nicht gebraucht würden. Denn Juristen sind unbeliebt.

Das war schon immer so. Lassen wir im historischen Zusammenhang einige unserer prominentesten Kritiker zu Wort kommen. Gegner hatte der Berufsstand der Juristen in Deutschland, seit es hier überhaupt gelehrte Juristen gab. So bestanden zum einen Vorbehalte gegen eine Rechtsprechung durch Rechtsgelehrte. Die mittelalterliche Gerichtsbarkeit beruhte auf dem Rechtsempfinden und nicht in der Anwendung geschriebenen Rechts. Sie geriet aber immer professioneller. Die Karriere der gelehrten Juristen hängt zusammen mit der Rezeption des römischen Rechts, die mit der Einsetzung des Reichskammergerichts 1495 praktisch entschieden war. Die Rezeption des römischen Rechts hatte viele Gründe. Den wichtigsten stellte Paul Laband heraus, nämlich den Zusammenhang mit der Entstehung des Territorialstaats.

Rede über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Staatsrecht, in: Rektoratswechsel an der Universität Straßburg am 1. Mai 1880, S. 24 ff.

Ehe ich diesen öffentlich-rechtlichen Aspekt weiterverfolge, möchte daran erinnern, daß der Aufstieg der gelehrten Juristen im privaten Rechtsverkehr von Anfang an mit zeitgenössischen Klagen der Landstände und Bauern über die Doktoren und ihre unverständlichen Subtilitäten verbunden war. Die Distanz der Laien gegenüber "Justizjuristen" hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Die Klagen gegen juristische Subtilitäten münden in zyklische Forderungen nach Rechtsvereinfachungen, für die man aber auch Juristen benötigt. Die komplizierten Lebensverhältnisse erzwingen ohnehin bald wieder differenzierende Regelungen, die ebenfalls nur Juristen entwerfen und kommentieren können. Insofern ist ihre Stellung nicht gefährdet. Der Juristenstand ist ein perpetuum mobile. Überflüssig und nutzlos werden Juristen nicht werden, mögen sie auch noch so unbeliebt sein. Zurück zum öffentlich-rechtlichen Aspekt: Bevor die gelehrten weltlichen Juristen in das Gerichtswesen eintraten, waren sie längst Regierungs- und Verwaltungsbeamte. Wo regiert wurde, bestand ein Bedürfnis nach schriftlicher Aufzeichnung. Diese Aufgabe erfüllten die Skriptoren oder "notarii". Das waren zunächst die Geistlichen ("clercs"). Die Schreibtätigkeit führte zu Expertenwissen und erforderte Kenntnisse namentlich des rezipierten fremden Rechts. Spätestens gegen Ende des Mittelalters hatten die gelehrten Juristen die Kleriker aus den Kanzleien verdrängt. "Silete, theologi, in munere alieno !" rief ihnen Albericus Gentilis zu. Die Theologen verschmerzten das nur schwer. Luther verwarf zwar die von katholischer Seite propagierte Erniedrigung des Staates unter die Kirche, war aber selbst "ein Geweihter der Herrn". In seinen Tischreden schlug er mit Begeisterung auf die Juristen los ("Juristen sind böse Christen"). Als er gegen seinen Willen gezwungen wurde, an Rechtsverhandlungen teilzunehmen, schrieb er seiner Frau:

"Ich bin nun auch Jurist geworden. Aber es wird ihnen nicht gedeihen. Es wäre besser, sie ließen mich einen Theologen bleiben. Käme ich unter sie... ich möchte ein Poltergeist werden, der ihren Stolz durch Gottes Gnade hemmen möchte." (1982 wurde der Ausspruch dann von Steven Spielberg verfilmt. Obwohl ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung i.S.v. __ 1 und 3 PolG Bad.-Württ. angedroht wurde, gab die FSK den Film ab 16 Jahren frei).

Die kaiserlichen Berufsjuristen und ihre kurfürstlichen und reichsstädtischen Kollegen entwickelten allmählich so etwas wie ein Herrschaftswissen, demgegenüber selbst die Könige und Fürsten an Kompetenz verloren. Deutlicher war diese Entwicklung im Gerichtswesen, auch wenn sie ursprünglich in die entgegengesetzte Richtung lief. War das Gerichthalten von alters her Angelegenheit des Landesherrn und seiner Richter, so bestand für die Urteilsfindung eine Zuständigkeit der Schöffen, d.h. der rechtlich nicht vorgebildeten "Urteiler". Die Urteiler verstanden jedoch das rezipierte fremdsprachige Recht nicht. Die juristisch gebildeten Richter mußten den Schöffen das Recht erläutern und wurden zunehmend an der Rechtsprechung beteiligt. Da die Richter aber in einem Dienstverhältnis zum Landesherrn standen, schwang sich eben der Landesherr zum obersten Urteiler auf. Die Kabinettsjustiz entstand. In Preußen etwa bestätigte, milderte oder verschärfte der König Strafurteile und erließ in Zivilprozessen auf "Supplik" einer Partei Machtsprüche. Das Supplikenwesen wurde von den preußischen Königen selbst zunehmend als Unwesen empfunden. Unter dem cholerischen Friedrich Wilhelm I. ("Qudiquid vult, vehementer vult") kam noch dessen Abneigung gegen die Advokaten hinzu. Deswegen bestimmte er, daß diese "Blutigel und Supplikenschreiber" einen kleinen schwarzseidenen Mantel tragen müßten, um sie öffentlich gewissermaßen zu outen. Am 15.11.1739 erging eine Verordnung:

"... wenn ein Advocat oder Procurator oder anderer dergleichen Mensch Sr. K. Mj. durch Soldaten" - das waren die berührtem langen Kerls, die u.a. dem König die Suppliken zuzustellen hatten - "Memoralien in Prozeß- oder Gnadensachen einreichen zu lassen sich unterstehen oder auch wenn ein oder der andere Leute aufwiegeln wird, um in abgethanen und in abgedroschenen Sachen Sr. K. Mj. Memoralien zu übergeben, alsdann S.K. M. einen solchen ohne Gnade aufhängen und neben ihn einen Hund hängen lassen wollen."

Die Sprache ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Aber die Tendenz ist klar. Sie wurde von Friedrich dem Großen verständlicherweise nicht geteilt, der im Katte-Prozeß einen Machtspruch seines Vaters am eigenen Leib hatte erfahren müssen und unter dem Einfluß der französischen Philosophen stand. Montesquieu bezeichnete es in seinem 1748 erschienenen "Geist der Gesetze" als Merkmal eines despotischen Staates, wenn der Monarch durch die Kabinettsjustiz in den Gang der Rechtspflege eingreifen dürfe. In Zivilprozesse mischte sich Friedrich der Große nicht mehr ein, wenn er auch auf die Bestätigung der Strafurteile nicht verzichtete. Anders als sein Vater, von dem der Ausspruch stammt, "die Civiljura verstehe ich nicht", hielt sich Friedrich der Große für juristisch durchaus bewandert. Gerade das gab ihm immer wieder Anlaß, sich über die Justiz zu ärgern, die er für träge und verschlafen hielt. Zum Eklat kam es dann im berühmten Müller Arnoldschen Prozeß, auf den ich noch eingehen werde.

Die Liste der Prominenten, welche sich an der Juristen-Schelte beteiligten, ließe sich ins Uferlose, d.h. bis in die übelsten Niederungen erweitern. Hitler äußerte am 29. März 1942 bei einem seiner berüchtigten Tischgespräche, wenn früher der Schauspieler auf dem Schindanger begraben worden sei, so verdiene es heute der Jurist, dort begraben zu werden. Niemandem komme der Jurist näher als dem Verbrecher, und auch in der Internationalität gebe es zwischen den beiden keinen Unterschied. Nach Hitler ist keine Steigerung im Negativen mehr möglich, selbst wenn berufsmäßige Antifaschisten und nun auch Scientologen immer wieder bemüht sind, Fortschreibungen in die Gegenwart vorzunehmen. Ich verkneife es mir auch, den Rassenwahn des Dritten Reichs mit dem Klassenwahn der "DDR" aufzurechnen. Die Justizkritiker übergehe ich ebenfalls; denn deren Kritik richtet sich mehr gegen das Rechtswesen als gegen die Juristen schlechthin.

Zumeist handelt es sich bei den Justizkritikern wie etwa Kurt Tucholsky ("Wenn da was fällt wie'n Donnerkeil - : Das nennt man ein Gerichtsurteil") selbst um Juristen, die durchaus von ihren juristischen Fähigkeiten Gebrauch machten.

2. Die wenigen Beispiel sollten als Beleg ausreichen, daß Juristen unbeliebt sind. Es dürfte auch angeklungen sein, wieso Juristen unbeliebt sind, nämlich weil sie eine Bedrohung für konkurrierende Berufszweige, aber auch Gewaltinhaber bedeuten, weil sie ihren Mitmenschen lästig fallen. Auf die Einzelaspekte komme ich nicht zurück. Im Moment gilt es nur, das Augenmerk auf ein erstaunliches Phänomen zu richten: Obwohl Juristen in den unterschiedlichsten Funktionen tätig sind, trifft sie die Abneigung ihrer Mitmenschen pauschal. Ich kann mir das nur so erklären, daß alle juristischen Berufe gemeinsame Merkmale aufweisen, die den einheitlichen Menschentyp oder wenigstens Arbeitstyp des Juristen erzeugen. Bei der Vielfalt der juristischen Berufe muß die Einheitlichkeit durch die Juristenausbildung erreicht werden.

3. Jurist kann sich in Deutschland mit voller Berechtigung nur nennen, wer die Befähigung zum Richteramt besitzt. Mit dieser Befähigung stehen alle juristischen Berufszweige (Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Notar, Wirtschaftsjurist, Verwaltungsjustiz, Richteramt) offen. Dies wird erreicht durch eine einheitliche Ausbildung, die freilich im internationalen Vergleich und historisch nicht selbstverständlich ist. International ist die Zweigliedrigkeit der Juristenausbildung und die Orientierung am Richteramt ein Unikum. Den Einheitsjuristen kennen auch andere Staaten, wie etwa die USA. Dort ist allerdings die Ausbildung auf den Lawyer im weitesten Sinne fixiert. Die deutsche Ausrichtung am Richteramt ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Die Geschichte der deutschen Juristenausbildung hat zwei Wurzeln. Die Justizaubildung hängt zusammen mit der Aufnahme der doctores juris in die höheren Gerichte im 15. Jahrhundert, die im ausgehenden 17. Jahrhundert die Einführung eines juristischen Vorbereitungsdienstes und juristischer Staatsprüfungen zur Folge hatte. Auch die Advokaten mußten ihre theoretischen und praktischen Kenntnisse in einem öffentlichen Examen unter Beweis stellen. Für den Erwerb der praktischen Kenntnisse wurde ein Vorbereitungsdienst geschaffen, der ein Universitätsstudium voraussetzte. Mitte des 17. Jahrhunderts waren für eine Anstellung bei den höheren Kollegialgerichten im Vorbereitungsdienst mehrere Prüfungen abzulegen. Für das erste Examen (Auskulatur) mußte der Kandidat mindestens 20 Jahre alt, "von gutem Herkommen und guter Conduite sein und über eigene Mittel zur Subsistenz verfügen". Nach der Ausbildung als Auskulator folgte das Referendarexamen, das für die Anstellung an den unteren Gerichten genügte. Der Referendar konnte sich nach Ableistung der Referendarzeit aber auch zum Assessorexamen anmelden. Die Prüfungen erfolgten beim Berliner Kammergericht, waren öffentlich und erforderten eine "ziemliche Wissenschaft in theoria et praxi". Von 1793 an wurde der Vorbereitungsdienst für alle Richter, Rechtsanwälte, Advokaten und Notare obligatorisch. 1869 erfolgte eine grundlegende Ausbildungsreform. Die Auskulatur wurde abgeschafft. Der Schwerpunkt der Juristenausbildung verlagerte sich auf das nur vierjährige Referendariat. Das Referendarexamen wurde zu einer reinen Eingangsprüfung zum Vorbereitungsdienst. Die Prüfungskommissionen wurden fast ausschließlich mit Richtern besetzt. Das Rechtsstudium war eine ausschließlich theoretische Ausbildung und konzentrierte sich auf das gemeine Zivilrecht. Dennoch sollte die Prüfung erkennen lassen, ob der Kandidat "Einsicht in das Wesen und die geschichtliche Entwicklung der Rechtsverhältnisse" und "die für seinen künftigen Beruf erforderliche allgemeine rechts- und staatswissenschaftliche Bildung erworben hat". Dem entsprach die Universitätsausbildung ersichtlich nicht, so daß einerseits im Vorbereitungsdienst ergänzende Übungskurse und Arbeitsgemeinschaften eingeführt werden mußten, andererseits das Rechtsstudium praxisnäher gestaltet werden mußte. Im Studium konzentrierte sich die Ausbildung auf die Reichsjustizgesetze, aber endlich auch auf das öffentliche Recht. Die Ausbildung zum Verwaltungsjuristen hatte 1727 mit der Einführung eines praktischen Studiums für künftige Verwaltungsbeamte bei den Kriegs- und Domänenkammern begonnen, die Kenntnisse von Ackerbau und Viehzucht, Brau- und Branntweinwesen vermitteln sollte. Seit war 1840 das Polizeiwesen dazugekommen. Dem war seit 1770 eine Prüfung u.a. zu Fragen des Naturrechts gefolgt, bei der auch eine juristische Relation anzufertigen war. Hardenberg hatte 1817 verbindlich ein Rechtsstudium neben dem kameralistischen Studium vorgeschrieben. Seit 1846 konnte Regierungsreferendar werden, wer ein juristisches Studium abgelegt hatte. Seit 1879 war die universitäre Ausbildung einheitlich. 1904 gab es folgende Prüfungsfächer: Zivilrecht, römische und deutsche Rechtsgeschichte, Grundzüge des römischen und deutschen Privatrechts, Strafrecht und Strafprozeßrecht, Kirchenrecht, Staatsrecht, Völkerrecht, Grundlagen des Verwaltungsrechts, der Nationalökonomie und der Finanzwissenschaft. Da schon die Universitätsausbildung lebenstaugliche Juristen hervorbrachte, nahm das Referendarexamen den Charakter einer Universitätsabschlußprüfung an. In den Prüfungskommissionen dominierten jetzt die Universitätslehrer. In der Weimarer Zeit wurde der Vorbereitungsdienst verkürzt. Die Justizlastigkeit der Juristenausbildung blieb erhalten. Von den vier Examensklausuren entstammten zwei dem Zivilrecht. Der Ausbildung für den Verwaltungsdienst wurde erst im Referandariat stärker Rechnung getragen. Für die Verwaltungsjuristen schloß sich ein Regierungsreferendariat an, das bis nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Hiervon rückte man dann aber ab. Die Befähigung zum Richteramt ist gleichwohl zugleich die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst. Dem entspricht die Lage in der Gegenwart.

4. Auch wenn die Juristenausbildung aus zwei Wurzeln gespeist wird, auch wenn der Baum in Schieflage geraten ist, weil eine Wurzel, die des Verwaltungsjuristen, verkümmerte, herrscht in Deutschland immer noch das Ausbildungsziel des Einheitsjuristen vor. Der Einheitsjurist bedeutet eine Absage an die Idee des juristischen Spezialisten. Ob der allseits verwendbare Jurist eine anachronistische Fiktion darstellt, ob aus ihm der nirgendwo verwendbare Jurist geworden ist, ist eine Frage, die uns alle existentiell angeht. Die Antwort setzt voraus, daß wir die zuvor angedeutete Situation des herkömmlichen Einheitsjuristen einer näheren Betrachtung unterziehen.

III. Der gefährdete Jurist

1. Der gefährdete Jurist ist ein Bild von Hans Schneider.

Der gefährdete Jurist, in: Festschr. f. Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 347 ff.

Ehe von einer Gefährdung zu reden ist, muß ehrlicherweise davon ausgegangen werden, daß Juristen für ihre Mitmenschen zur Gefahr werden können, wenn sie sich mit den jeweiligen Machthabern verbünden. Dadurch gefährden die Juristen sich selbst. Die Nähe zum Machthaber macht die Stellung der Juristen gefährlich. Exemplarisch verweise ich auf den Aufruf des Rebellenführers Cade im Drama Heinrich der Sechste (II. Teil, 4. Akt, 2. Szene) von William Shakespeare:

"The first thing we do, let's kill all the lawyers"

Die negative Seite der Juristen brachte am besten Alexis de Tocqueville zum Ausdruck. Er schrieb, man könne mühelos feststellen:

"daß sich in allen zivilisierten Ländern neben einem Despoten, der befiehlt, fast immer ein Rechtsgelehrter befindet, der dessen willkürliche und unzusammenhängende Willensakte in eine Ordnung und Übereinstimmung bringt. Die allgemeine Liebe zur Macht, die die Könige erfüllt, ergänzen sie durch die Freude an der Methode und die Kenntnis von den Einzelheiten der Herrschaft, über die sie selbstverständlich verfügen. Jene verstehen es, die Menschen vorübergehend zum Gehorsam zu zwingen; diese besitzen die Kunst, sich fast freiwillig zu ständiger Fügsamkeit zu beugen. Die einen liefern die Macht, die andern das Recht. Jene gelangen durch Willkür zur höchsten Macht, diese durch Legalität. An dem Schnittpunkt, an dem sie sich begegnen, entsteht ein Despotismus, der der Menschheit kaum die Luft zum Atmen läßt; wer nur an den Fürsten denkt, nicht an den Juristen, kennt nur die eine Seite der Tyrannei, um das Ganze zu erfassen, muß man beide zugleich im Auge haben." (Die gesellschaftlichen und politischen Zustände in Frankreich vor und nach 1789, 1836).

Auch im Dritten Reich waren Juristen nach den Normen des nationalsozialistischen Staates tätig, auch dort stritten sich namhafte Staatsrechtlehrer um die Rolle des Kronjuristen, obwohl hierfür letztlich überhaupt keine Nachfrage bestand. An dem Faktum, daß sich auch Juristen dem Führerstaat andienten, läßt sich nicht rütteln. Die Tyranneianfälligkeit der Juristen belegen bis in die jüngere Vergangenheit die Aktivitäten der DDR-Jurisprudenz, wenn man diese Bezeichnung überhaupt verwenden darf. Die Tyranneianfälligkeit besteht nicht nur in Diktaturen. Auch in Demokratien besteht die Gefahr, daß Juristen sich entweder als Gralshüter konservativer Mehrheitsmeinungen oder auch als Zeitgeistverstärker mißbrauchen lassen. Auf die Nähe zum Machthaber kommt es dann nicht einmal an. Selbst Gerichte sind für die Neigung anfällig, ihre Aufgabe, im Namen des Volkes Recht sprechen, dahingehend mißzuverstehen, daß sie sich zu Volkes Stimme aufschwingen. Einfallstore hierfür bieten die Generalklauseln im Privatrecht, offene Tatbestände im Strafrecht und vor allem unbestimmte Rechtsbegriffe im öffentlichen Recht. Erwähnt sei nur das Unheil, daß man mit den "guten Sitten" im Gewerberecht oder der "öffentlichen Ordnung" im Polizeirecht schon angerichtet hat. Auch die "Werteordnung des Grundgesetzes" ist alles andere als unproblematisch. Um in dieser Feierstunde nicht vor der eigenen Haustür kehren zu müssen, gebe ich ein Beispiel aus dem Mutterland der political correctness, den USA.

Nur die Älteren unter Ihnen, die wie ich Zeitzeugen waren, können sich vorstellen, daß der Rock & Roll in den frühen 50er Jahren weltweit nicht nur als Kulturschock empfunden wurde, sondern es auch war. Das gilt vor allem für seine Heimat. Ich will keine lange Reden über die Wurzeln dieser Musik halten (hierfür ist ein eigener Vortrag auf dem Tübinger Doktorentreffen am 13.6.1997 vorgesehen). Mit der Unterhaltungsmusik der Nachkriegsjahre, mit dem schwarzen und weißen Big-Band-Swing, mit der Musik, die von den sog. major record companies und der Komponistengewerkschaft ASCAP gepflegt wurde, hatte der Rock & Roll nichts zu tun. Er entstand aus einer Mischung von weiterentwickelter Country- oder Hillbilly-Musik und Rhythm & Blues, damals race music genannt. Die Musik der ländlichen weißen und schwarzen Unterschicht wurde nicht nur verschmolzen; das Ergebnis war zum Entsetzen des Establishments auch noch erfolgreich. Zwar brachten zunächst nur kleine regionale Plattenfirmen die neue Musik heraus. Aber gekauft wurde die Musik überall von der zahlungskräftigen Taschengeldgeneration, so daß die großen Firmen den überregionalen Vertrieb übernehmen mußten. Zuerst fiel gar nicht auf, daß Sänger wie Chuck Berry und Fats Domino in den weißen Charts auftauchten. Bei Bill Haley wurde man aufmerksamer, weil er die ersten Krawalle hervorrief. Der Knackpunkt war Elvis Presley, den viele ursprünglich für einen Schwarzen hielten, bis er 1956 im Fernsehen auftrat. Er war zu diesem Zeitpunkt schon zu populär, um - von erfolgreichen Domestizierungsversuchen abgesehen - massiv gegen ihn vorzugehen. Also suchte man als Sündenbock Alan Freed, der es gewagt hatte, die Titel farbiger Sänger im Original, d.h. nicht weißgewaschen, zu senden. Dieser Mann, der 1952 den Begriff Rock & Roll geprägt hatte und der einer der populärsten Diskjockeys und Konzertveranstalter der frühen 50er Jahre war, wurde nun mit juristischen Mitteln zur Strecke gebracht. Hierzu mußte man nur untersuchen, ob und in welchem Umfang die Hitparaden manipuliert waren und ob der Juke-Box-Betrieb vom organisierten Verbrechen manpipuliert wurde. Hinzu kamen von den Kirchen propagierte Theorien über die sexuelle Verrohung der Jugendlichen durch die triebhafte Musik. Es fehlte nur, daß kommunistische Subversion gewittert wurde, wie umgekehrt der Rock & Roll im Ostblock als kapitalistischer Exzeß verboten war. In Deutschland hätte man das unter trockene Begriffe wie "Korruption in der minderjährigenbezogenen Unterhaltungsindustrie" gebracht. In den USA sprach man plastischer von "Payola". Alan Freed verlor Job und Reputation. Der Strafprozeß schleppte sich über Jahre, bis die Anwaltskosten sein Vermögen aufgezehrt hatten. Er erhielt dann eine sechsmonatiger Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine Geldstrafe in Höhe von 300 $. 1964 starb er bankrott als Alkoholiker im Alter von 42 Jahren. Interessanter als sein persönliches Schicksal ist die Feststellung, daß ab 1959 sich niemand mehr traute, unverfälschten Rock & Roll zu produzieren oder zu senden. Die Weißen machten wieder ihre Musik und die Schwarzen flüchteten sich in die frühe Soul-Musik. Der Versuch einer musikalischen Rassenintegration war mit rechtlichen Mitteln abgewürgt worden. Ironischerweise wurde dann die schwarze Musik von Britischen Gruppen imitiert und in die USA reimportiert. Das Establishment hielt offenbar den Akzent der Beatles und der Rolling Stones für kultivierter als die Originale. Das hat sich später gerächt. Die juristisch abgesicherten Reglementierungen der Jugendkultur konnten den Dammbruch Mitte der 60er Jahre nicht verhindern. In Deutschland wäre das vielleicht nicht so passiert. Dennoch verlief die Entwicklung - vom Rassenproblem abgesehen- ähnlich, obwohl die Anwaltorientierung der amerikanischen Juristen diese politikanfälliger macht.

2. Die Gefahr, die von Juristen ausgehen kann, wenn sie sich als Sprachrohr des jeweiligen Machthabers oder Zeitgeists mißbrauchen lassen, ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, daß Juristen und namentlich Richter sich wegen ihrer durch die Juristenausbildung mitgestaltete Persönlichkeitsstruktur als Garant für die Rechte der Bürger verstehen und immer wieder in Konflikte mit den Machthabern geraten. Einige Beispiele wurden bereits erwähnt. Daß unter Ludwig XIV. die Richter nichts zu lachen hatten, liegt auf der Hand. Colbert betrieb nicht nur eine Finanzreform, sondern vor allem eine Justizreform Schon damals ging es darum, "d'établir une jurisprudence certaine et fixe". 1688 wurde eine Denkmünze über die Reinigung des Richterstandes herausgegeben, die die Umschrift trug "Emendati judices". Ludwig XIV. wiederum war das große Vorbild Friedrich des Großen, der alles verschlang, was Voltaire, von Hause aus Jurist, ihm zu diesem Thema vortrug. Zusammen mit dem ehrgeizigen Cocceji räumte er in der Justiz auf. Von den 47 Räten des Kammergerichts wurden 17 über Nacht entlassen. 1748 wurde eine Erinnerungsmünze herausgebracht mit der Umschrift "Emendato jure". Die Anrede als "grand juge" durch Voltaire scheint Friedrich in den Kopf gestiegen zu sein. Zeit seines Lebens widmete er dem Rechtswesen größte Aufmerksamkeit, bis er die Kontrolle des Großkanzlers Fürst selbst in die Hand nahm. 1775 schrieb er:

"Ich kann Euch nicht verhalten wie es mir vorkommt, als wenn die Justiz wieder anfängt einzuschlafen; ich will dergleichen Kleinigkeiten kurz und guth abgetan wissen, damit meine Unterthanen nicht ruiniert werden".

Fürst reagierte, obwohl ihm der König androhte "Wir werden Unfreunde", nur unzureichend, indem er einige Advokaten kassierte. Friedrich erließ darüber hinausgehend 1776 ein Strafgesetz "wider das einreißende pflichtwidrige Betragen nicht allein der Advokaten, sondern auch der Räthe in den sämmtlichen Justizcollegien". Als sich herausstellte, "daß die Prozesse wieder anfingen, gar zu sehr zu trainieren", wurde das Strafgesetz ein Jahr später um die Bestimmung erweitert:

"Wenn die Richter dennoch fortfahren zu verschleppen, so werde einen dergleichen Richter, ohne erst eine weitläufige Untersuchung anzustellen, sofort cassieren und nach der Festung schicken, um ein Exemple zu statuieren."

Weitere zwei Jahre später kam es zum berühmten Prozeß des Müllers Arnold. Arnold war Erbpächter einer Mühle des Grafen Schmettau. 1770 legte der Landrat von Gersdorff, ein Gutsnachbar, Karpfenteiche an, wodurch Arnold nach dessen Behauptung das Mühlwasser und damit die Verdienstmöglichkeit entzogen wurde. Seit 1771 geriet er daher mit dem Pachtzins in Rückstand. Nach langem Hin und Her und verschiedenen Zivilprozessen wurde der Müller 1777 zur Zahlung bei Vermeidung des Verkaufs der Mühle verurteilt. Im Jahr darauf erfolgte der Verkauf. Im August 1779 erschien der Müller im Schloß zu Potsdam und veranlaßte den König zur Anordnung einer unparteiischen Untersuchung. Hiermit wurde ein Oberst und ein von der zuständigen neumärkischen Regierung zu bestellender Kommissar benannt. Beide kamen zu unterschiedlichen Ergebnisse. Der Oberst hielt die Beschwerden des Müllers für begründet. Offenbar glaubte der König ihm mehr; denn am 29. September 1779 teilte er der neumärkischen Regierung mit, sie sei wider alle gesunde Vernunft an die Sache gegangen und nicht das Brot wert. Sie solle die Sache mit Arnold sogleich in Ordnung bringen und ihn klaglos stellen. Die Regierung veranlaßte daraufhin den Müller, gegen den Landrat von Gersdorff Klage zu erheben. Hierauf ließ Arnold sich ein, unterlag aber am 28. Oktober 1779. Die Müllerin beschwerte sich unter Verschweigen dieser Entscheidung beim König, der immer ungeduldiger wurde und die zuständigen Behörden anwies, die Sache endlich zu Ende zu bringen. Die Behörden mußten jedoch auf den schwebenden Prozeß verweisen, was den König veranlaßte, am 28. November 1779 dem Kammergericht anzubefehlen, "ganz kurz und ohne soviel Weitläufigkeiten die Sache auszumachen" und dies "fordersamst zu berichten". Schon am 9. Dezember bestätigte das Kammergericht die Entscheidung der Vorinstanz: Wie üblich lautete die Eingangsformel "In Sachen.. erkennen Wir Friedrich usw. für Recht...". Arnold hatte also auch in der zweiten Instanz verloren. Der König verlangte sofort eine Abschrift des Urteils, die er auch am 10. Dezember erhielt. Am folgenden Tag berief er den Großkanzler und die drei Kammergerichtsräte, die das Urteil abgefaßt hatten, zu sich ins Schloß und empörte sich, das Obertribunal habe mit der Eingangsformel des Urteils: "Meinen Namen cruel mißbraucht".

Ein anderer König, Elvis Presley, griff das später auf mit dem Titel "Don't be cruel" (Von Otis Blackwell und Elvis Presley. Copyright 1956 Shalimar Music Corp. / Elvis Presley Music Inc. New York) unbewußt auf. Die Querverbindung ist gar nicht einmal so abwegig, wenn es stimmen sollte, daß Presley deutsche Vorfahren hat. Sein Urahn Johann Valentin Pressler ist angeblich 1709 auf dem Pfälzer Dorf Niederhochstadt nach Amerika ausgewandert.

Als der Großkanzler darauf hinwies, daß das Kammergericht das Urteil gefällt habe, entließ ihn der König mit dem Satz "Marsch, Seine Stelle ist schon vergeben". Die drei Kammergerichtsräte wurden für verhaftet erklärt und in das Stadtgefängnis verbracht. Am gleichen Tag wurde die Verhaftung der zuständigen Verwaltungsbeamten verfügt und ihr vorgesetzter Regierungspräsident entlassen. Der Justizminister des Kriminaldepartements von Zedlitz erhielt den Befehl, durch das Kriminalkolleg, d.h. durch den Strafsenat des Kammergerichts, über die Richter "nach der Schärfe des Gesetzes und zum mindesten auf Kassation und Festungshaft unter Schuldigsprechung zu voller Entschädigung des Arnold" das Urteil sprechen zu lassen. Der Strafsenat stütze sich jedoch darauf, daß im Zivilprozeß der Instanzenzug noch gar nicht erschöpft sei. Im übrigen falle den Angeklagten keine vorsätzliche Ungerechtigkeit zur Last. Es sprach daher die Richter frei. Ebenso argumentierte der Minister. Der König äußerte, es sei im lieb, daß er den Minister bei dieser Gelegenheit kennen gelernt habe. Wenn dieser und das Kammergericht das gewünschte Urteil nicht sprechen wolle, tue er es selbst. Er entließ daraufhin die Richter des Zivilgerichts, die nicht in seinem Sinne entschieden hatten und verurteilte sie zu einjähriger Festungshaft. Gegen den Strafsenat und gegen Minister von Zedlitz wagte er kein Vorgehen mehr. Erst unter Friedrich Wilhelm II. wurde der Prozeß gegen die Zivilrichter wieder aufgenommen, und die früheren Verfügungen als Justizirrtum, wozu der "ruhmwürdige Justizeifer" seines Onkels durch unzureichende Berichte verleitet worden sei, aufgehoben. Man mag zum Müller Arnold-Prozeß stehen, wie man will. Er hatte reinigende Wirkung und gab von Carmer die Chance zu einer grundlegenden Justizreform. Auf die Kodifikationen Carmers gehe ich nicht näher ein. Die Lobesreden auf das preußische Allgemeine Landrecht haben die meisten von Ihnen bei Beginn Ihres Studiums 1994 anläßlich der 200-Jahr-Feiern vermutlich miterlebt. Bei den Kodifikationen war aber nunmehr die Frage der Beamtenentlassungen (auch die Richter waren Beamte) und der Machtsprüche zu klären. In Süddeutschland, wo die Beamtenverhältnisse auf privatrechtlichen Dienstverträgen beruhten, kamen einseitige Beamtenentlassungen nicht in Betracht. Im Schrifttum wurde das nun als gemeinrechtliches Gedankengut verteidigt. So setzte sich auch in Preußen eine Formulierung durch: "Kein Civilbediensteter soll des ihm einmal anvertrauten Amtes ohne Urteil und Recht wieder entsetzt werden." Weiter wurde geregelt, daß Machtsprüche unstatthaft seien. Hieran wäre beinahe das ALR gescheitert. Letztlich ließen sich aber das Lebenzeitprinzip im Beamten- und Richterrecht wie auch die Unabhängigkeit der Richter nicht verhindern.

Die persönliche richterliche Unabhängigkeit steht in untrennbarem Sachzusammenhang mit der sachlichen Unabhängigkeit der Gerichte. Zunehmend, zunächst nur in Zivilrechtsstreitigkeiten, später auch im Staat-Bürger-Verhältnis, nahmen die Gerichte im Verhältnis zur Krone eine Sonderstellung ein. Der kontinentale Richterstand ist erst im 18. Jahrhundert aus dem Beamtenstand herausgelöst worden. Der Weisungsfreiheit korrespondiert die Bindung an das Gesetz. Die Gefährdungen des Juristenstandes und selbst des Richterstandes sind dadurch nicht verschwunden. Heinrich Triepel führte 1926 zwar in seiner Berliner Rektoratsrede aus, daß die Staatsrechtslehrer im Schatten des Rechtsstaates nicht mehr zu befürchten brauchten, wegen ihrer Theorien um Amt und Brot gebracht zu werden. ( Staatsrecht und Politik, 1927, S. 13 f.). Wenige Jahre später erfolgten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die größten Säuberungsaktionen in der deutschen Geschichte. Hitler ließ sich die Sondervollmacht absegnen, "ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein", jeden Deutschen bei Pflichtverletzungen "ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte" und "im besonderen ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus seinem Amte, aus seinem Rang und seiner Stellung zu entfernen." (RGBl. I S. 247). Nach dem 2. Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung kam es zwar auch zu Säuberungsaktionen. Verglichen mit den historischen Beispielen sieht sich der Berufsstand der Juristen indessen keiner ernsthaften Gefahr durch den Machthaber ausgesetzt. Die einzige Bedrohung besteht darin, daß Juristen lästig fallen und die Prüfung provozieren, ob man sie nicht auch entbehren könnte.

IV. Der lästige Jurist

Der "lästige Jurist" ist ein Ausdruck, den Ernst Forsthoff in einem vielbeachteten Vortrag aus dem Jahr 1955 prägte.

Abgedruckt in: Ruperto Carola. Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg, Bd. 17, 1955, S. 66 ff. = DÖV 1955, 648 ff. = Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. 227 ff.

Forsthoff führte aus, daß, wie der souveräne Flächenstaat eine Schöpfung der Juristen war, der Staatsdienst bis ins 20. Jahrhundert hinein in seinen höheren Funktionen Juristendienst gewesen sei. Das "Juristenprivileg" befinde sich aber nunmehr im Abbau. Der entscheidende Terrainverlust des Juristen in der Verwaltung sei mit seiner Verdrängung durch den fachlich vorgebildeten Beamten eingetreten. Beispielsweise in der Schulverwaltung, Gesundheitsverwaltung und Verkehrsverwaltung sei der Jurist in die Rolle des Justitiars zurückgedrängt, d.h. er nehme an der eigentlichen Verwaltung nur noch am Rand in einer Art juristischen Unfallverhütungsstation teil. Den Bedeutungszuwachs des Fachwissens begründete Forsthoff mit dem Wandel der Staatsaufgaben. Der moderne Staat sei zunehmend gezwungen, Sozialbereiche zu sanieren. Dies erfodere engagiertes Fachwissen, während der Jurist neutral und unengagiert sei. Da aber die Sozialwissenschaftler, Planer u.dgl. nach perfekten Lösungen drängten, werde der Jurist Antipode des zügigen Verhaltens und falle dadurch lästig. Der Akzent verlagert sich vom staatspolitisch Wünschenswerten zum rechtlich Machbaren. Der Verwaltungsjurist wird m.a.W. auf die richterliche Funktion abgedrängt. Forsthoff hat das - 1955 - ausdrücklich begrüßt:

"Man hat an der weiten Auslegung der Gerichtsbarkeit Kritik geübt. Wie wir glauben, zu Unrecht. Denn die weitgehende Überantwortung der Verwaltung an den Fachmann macht in einem Rechtsstaat die gerichtliche Kontrolle umso unabweislicher."

Forsthoff sah aber ganz klar:

"Freilich ist das nicht der Dienst, den der Jurist ehemals dem Staat geleistet hat; denn dieser Dienst geschah in der Verwaltung selbst."

Diese Analyse war wegweisend bis in die jüngste Vergangenheit. Forsthoff malte den Richterstaat an die Wand. Von einer Vollendung des Rechtsstaats werde nur dann gesprochen werden können, wenn die Ziele, Formen und Verfahren der staatlichen Tätigkeiten die Ausprägung zurückgewännen, die dem Juristen gemäß sei. Dem "Juristen gemäß" wurde offenbar auf den Richter oder Justizjuristen bezogen. Auch was der Verwaltungsrecht betrifft, entwickelte sich die Bundesrepublik zum Richterstaat. Die Besonderen Gewaltverhältnisse wurden ausgeräumt, Beurteilungsspielräume beseitigt, selbst von der planerischen Gestaltungsfreiheit blieb wenig übrig. Umgekehrt war die Verwaltung bestrebt, ihre Entscheidungen gerichtsfest zu treffen. Für die fachlich engagierten Nichtjuristen in der Verwaltung fielen die Juristen immer lästiger. Noch schlimmer wurde es allerdings, als die Juristen in einer kurzen Zwischenphase ihr gesellschaftspolitisches (nicht staatpolitisches) Gewissen entdeckten und sich als Sozialingenieure ohne Auftrag gerierten. Nun gibt es nichts Schädlicheres als halbgebildete Dilettanten. Die Umettiketierung der Verwaltungslehre in Verwaltungswissenschaft konnte das nicht kaschieren. Jedenfalls mischten sich die Verwaltungsgerichte in naturwissenschaftliche und technische Diskussionen ein, legten eigenständig Lärmgrenzwerte fest und betätigten sich fachfremd, bis es ihnen selbst unheimlich wurde. Der Rückzug erfolgte zum Teil unspektakulär über normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, über den Beurteilungsspielraum bei technischen Sachverhalten u.ä. Die Hauptfluchtschneise war aber die Betonung von Formalien. Die Entdeckung von Verfahrensfehlern gehört zu den typischen juristischen Fähigkeiten. Die Beachtung von Formalien ist auch im Interesse der Rechtssicherheit wichtig. Verfahren sind dennoch kein Selbstzweck, es sei denn, es gelingt, besondere Wertigkeiten in Verfahrensvorschriften hineinzuinterpretieren. Daher lag es nahe, der Bürgerbeteiligung die höheren Weihen der demokratischen Verfahrensgestaltung zu verleihen und vor allem den Grundrechtsschutz durch Verfahren zu propagieren. Die Juristen hatten ihr Traumziel erreicht: Mit rechtsstaatlich gutem Gewissen dominierte wieder der Justizjurist die Verwaltung. Der Arbeitsanfall der Verwaltungsgerichte wuchs. Fast alle lebten glücklich und zufrieden. Wenn kaum noch ein Großvorhaben realisiert werden konnte, machte das nichts. Die Verwaltung zehrte immer noch von der Substanz. Dann kam jedoch das Großvorhaben, das alle überforderte: Die Wiedervereinigung. Nunmehr war es unvermeidbar, die Verfahren für Infrastrukturvorhaben zu beschleunigen und zu vereinfachen. Hierzu trugen Verfahrensbeschleunigungsgesetze bei, die die Bedeutung von Verfahrensvorschriften auf das Normalmaß zurückschnitten und deshalb für ganz Deutschland Modellcharakter hatten. Auch gelang es, die richterliche Kontrolldichte angemessen zu reduzieren. Die Juristen sind folglich nicht mehr ganz so lästig, jedoch selbstverständlich nicht entbehrlich..

V. Der überflüssige Jurist

Zu klären bleibt, ob durch die jüngsten Entwicklungen Juristinnen und Juristen in einem beträchtlichen Teil nutzlos geworden sind. Die Frage bewegt in erster Linie den juristischen Nachwuchs. Die äußeren Anzeichen sind ungünstig. Die Chancen, eine adäquate juristische Stelle zu bekommen, belaufen sich auf angeblich 54 bis 10 %. Das Institut für deutsche Wirtschaft verzeichnete 1996 49 Bewerber pro offene Stelle. Justiz und Verwaltungsgerichtsbarkeit sind weitgehend besetzt. Die Anwaltschaft klagt über Konkurrenzdruck. Rechtsprobleme gibt es aber mehr denn je. Offenbar bekommt der Juristenstand jetzt die Konkurrenz durch Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Fachhochschulabsolventen u. dgl. zu spüren. Werden dadurch etwa Volljuristen überflüssig ? Soll man stärker zur Spezialisierung schreiten ? Die Antwort ist eindeutig: Nur Einheitsjuristen sind überall einsetzbar. Eine Abkehr vom Einheitsjuristen steht nicht zu Debatte. Jedoch muß klar sein, was mit dem Konzept des Einheitsjuristen gemeint ist. Einheitsjurist steht für bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten, Denkrichtungen und ein entsprechendes Standesbewußtsein. Alle Juristen sind Organe der Rechtspflege. Der Rechtsstaat wurde erst dadurch verwirklicht, daß man die Verwaltung an Gesetz und Recht band, und hierbei leistete die Ausrichtung auf die Befähigung zum Richteramt gute Dienste. Die Orientierung am Richteramt macht die Juristen zur staatstragenden Schicht im sozialen Rechtsstaat. Das ist gerade in Deutschland wichtig, wo wir ohnehin an einer staatsideologischen Unterbilanz leiden. Eine Ausrichtung des Juristenstands auf den Anwaltsberuf wäre weniger sachgerecht. Auch Anwältinnen und Anwälte sollten gelernt haben, aus der Richterperspektive zu handeln. Die Formulierung "Befähigung zum Richteramt" ist allerdings irreführend. Abzustellen ist auf die Fähigkeiten eines Richters (Unparteilichkeit, Distanz, Entscheidungsfreude, Abwägungsvermögen). Nicht maßgeblich ist die Richterlaufbahn. Die wenigsten Juristinnen und Juristen werden dazu ausgebildet, die Richterlaufbahn zu ergreifen (und schon gar nicht die Richterlaufbahn nur bei den Zivil- und Strafgerichten). Wenn die Fixierung auf den Einheitsjuristen weiterhin zur Folge hat, daß in Studium und Vorbereitungsdienst vorwiegend Justizjuristen herangebildet werden, wäre das ein grobes Mißverständnis. Einheitsjuristen sind Juristinnen und Juristen, die das methodische Gerüst und die Grundkenntnisse erworben haben, sich in jedem juristischen Berufsfeld zu orientieren. Diese brauchen auch nicht die Konkurrenz etwa von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Fachhochschulabsolventen zu fürchten; denn diese verfügen nur über juristische Kenntnisse und Fähigkeiten auf ihrem Spezialgebiet. Auch Einheitsjuristen benötigen selbstverständlich Spezialkenntnisse. Auf Grund ihrer Grundlagenausbildung sind sie jedoch in der Lage, sich solche Spezialkenntnisse unschwer zu verschaffen. Dann wird es immer Möglichkeiten geben, sie nutzbringend einzusetzen.

VI. Schlußbemerkung

Meine Damen und Herren ! Sie haben das Examen bestanden. Dafür haben Sie viel gelernt, was Sie im Leben nie mehr brauchen werden, was aber für Ihr Berufsleben dennoch unerläßlich ist. Die Summe des Stoffs, den wir Ihnen vorsetzten, sollte Sie mit der spezifisch juristischen Denkweise vertraut gemacht haben, die es Ihnen ermöglicht, Sachverhalte zu analysieren, Argumente zu sammeln und zu gewichten und überall auch ohne spezielle Sachkenntnisse, aber auf der Grundlage genereller Rechtskenntnisse mitzureden und mitzugestalten. Das macht Sie vielleicht unbeliebt und lästig, aber andererseits unentbehrlich. Fazit: Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie erst einmal die Befähigung zum Richteramt erlangt haben, werden Sie vielleicht etwas älter sein als andere Berufsanfäger, dafür aber überall einsetzbar. Einheitsjuristen werden gebraucht und bleiben nützlich. Sorgen wir dafür, daß die Einheitsjuristen bleiben.